Nicht Dinge, sondern Erfahrungen sind es, die uns reich machen. Viele Erfahrungen aber sind unmöglich ohne andere Menschen. Das, was uns eigentlich reich macht, sind menschliche Begegnungen, wenn andere uns teilhaben lassen an ihrem Leben, ihren Erfahrungen und Gedanken.
Kein Licht ohne Schatten. Wer einmal das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr gesehen hat, weiß die Helligkeit des Tageslichts umso mehr zu schätzen. Oft sind es gerade die schmerzlichen Erfahrungen, die uns reicher machen, unser Leben voranbringen. Doch wissen werden wir dies immer erst im Nachhinein.
Erst aus der Retrospektive erschließt sich, was uns dunkle und harte Zeiten, in denen wir uns von Gott und der Welt verlassen glaubten, gebracht haben. So sagt man auch gerne: Karfreitag leuchtet von Ostern her. Den Reichtum dieses "Nachher" erleben wir allerdings nur, wenn wir die Kraft finden zum Durchhalten. Dass Gott sich uns zuwendet und uns diese Kraft schenkt, dass Gott in seiner Eigenschaft als Schöpfer nicht den Kräften des Todes, sondern des Lebens das Feld überlässt, dass Gott eine Lebensordnung will, in der nicht einer auf Kosten der Lebensoptionen der anderen lebt, das ist der Kern des jüdischen wie auch des christlichen Glaubens. Dass Gott als Garant des Lebens uns auch durch die dunklen Tage unseres Lebens begleitet, darauf dürfen und sollen wir daher stets vertrauen.
Pesach feiert die Rettung und Bewahrung des Gottesvolkes aus und in der Not, Ostern den Sieg des Lebens über die Mächte des Todes. In diesem Sinne ist das Geschehen von Karfreitag und Ostern als eine exemplarische Darstellung des Willens Gottes zu sehen, eines Willens, der sich schon in der Torah, den Propheten und Schriften gezeigt hat und der in Christi Leben und Sterben nach christlichem Glauben nochmals in besonderer Weise zur Geltung kam. Gerade deshalb darf Karfreitag Juden und Christen nicht trennen. Es ist der gleiche Gott, den wir als Quelle und Richtschnur unseres Lebens anerkennen. Es ist der gleiche Schöpfungswille, die gleiche Liebe zur Kreatur, die gleiche rettende Kraft, die sich hier in der Rettung aus lebensfeindlichen und unterdrückerischen Verhältnissen, in der Führung und Bewahrung in der Wüste und schließlich der Gabe eines Ortes zum sicheren Wohnen, dort in der Bewahrung durch Leiden und Tod hindurch und in der Rettung in ein anderes, neues Leben zeigt.
Es ist ebenso eine gemeinsame Erfahrung von Juden und Christen, dass diese Hoffnung und dieser Glaube in dieser Welt immer wieder mannigfach gefährdet sind durch die vielen Kräfte, die einem guten Leben im Wege stehen, die unser Leben in vielfältiger Weise begrenzen. Und auch die Erfahrung, nicht immer so leben zu können, wie wir gerne würden, teilen Juden und Christen gleichermaßen und von Anfang an. Nicht umsonst sind beide Testamente durchzogen von der Aufforderung zur Umkehr, zur Rückbesinnung auf den lebensbejahenden Willen Gottes. Und in beiden Religionen, die doch ihrem Ursprung nach eine sind, ist diese Rückbesinnung Pflicht und Gnade zugleich: Pflicht und Aufgabe dadurch, weil wir unser Leben und Tun danach ausrichten sollen, und Gnade und Gabe deshalb, weil sie uns Gottes unverbrüchliches "Ja" zu einem gelingenden Leben, zu uns als einzelnen und Teil einer Gemeinschaft zuspricht. Und in beiden Glaubensgemeinschaften geht der Verpflichtung der Menschen zunächst die Ermöglichung dazu voraus, indem sich Gott den Menschen zuwedet, sie anspricht, sich ihnen zeigt und sich in seinem vorausgehenden Handeln als rettender und befreiender Gott erwiesen hat.
Als einen wichtigen Teil dieser Aufgabe sehe ich die Versöhnung zwischen Juden und Christen gerade an Karfreitag. Wir Christen sollten diesen Tag einmal mehr zum Anlass nehmen, unsere jüdischen Schwestern und Brüder um Vergebung zu bitten nicht nur für mannigfache Pogrome, die mit dem Vorwand begründet wurden, Juden seien schuld am Tode Jesu, sondern für diese falsche Darstellung selbst. Es ware römische Autoritäten, die Jesus als Aufrührer hinrichteten. Die Rom-freundliche Darstellung der Evangelien rührt zu einem großen Teil daher, dass die frühen christlichen Gemeinden darauf angewiesen waren, nicht als Aufrührer und Feinde des römischen Regimes zu gelten. Eine Schuldzuweisung an römische Autoritäten wäre da Gift gewesen, und man muss auch leider sagen, dass die Schuldzuweisung an die jüdischen Autoritäten den Evangelisten deshalb sehr gelegen kam, weil man sich gegen die Ursprungsreligion abgrenzen musste und wollte und das Neue des christlichen Glaubens und die Bedeutung Jesu Christi so besser hervorheben konnte, indem man die Pharisäer als Negativschablone für die Verkündigung und die Passion Jesu hernahm. Eine Abgrenzung, wie sie notwendig ist, wenn Jugendliche erwachsen werden und sich von ihren Eltern lösen. Aber es ist fatal, wenn diese Schuldzuweisung in schriftlicher, geronnener Form über die Jahrhunderte und Jahrtausende tradiert wird, ohne noch in ihrem Ursprüngen verstanden zu werden. Deshalb wird es immer unerlässlich bleiben, dass die Beschäftigung mit den innerweltlichen und manchmal nur zu profanen Bedingungen, unter denen die heiligen Schriften gleich welcher Religion entstanden sind, weiter geht uns zu einem besseren Verständnis der eigentlichen Aussageintentionen der Texte verhilft.
Vielmehr sollten wir als Christen Karfreitag stärker im Licht der neutestamentlichen Interpretation sehen, dass Gott seinen Bund mit seinem Volk an diesem Tag erneuert und uns außerhalb des jüdischen Glaubens Stehenden durch Karfreitag und Ostern Zugang zu seinem uralten Bund mit dem Volk Israel verschafft. Dieser uralte Bund, in den wir durch die Einsetzungsworte bei der Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier hineingenommen werden, die nichts anderes sind als ein Teil der Pesach-Liturgie. Keine Schuldzuweisung, sondern gemeinsames Feiern der lebensermöglichenden göttlichen Gnade, die uns mehr denn je zu Brüdern und Schwestern mit einer ähnlichen Erfahrung macht, aus lebensfeindlichen Umständen zu einem neuen, gelingenden Leben in der Gemeinschaft mit Gott befreit worden zu sein! Für uns Christen sollte dies auch Dankbarkeit gegenüber unserer Mutterreligion einschließen, mit der wir viel teilen und der wir einen Großteil unserees eigenen biblischen Kanons und damit ursprüngliche Offenbarung, tiefe Gotteserkenntnis und äußerst wertvolles Gebetgut verdanken.
In diesem Sinne wünsche ich allen besinnliche und berührende, frohe und gesegnete Pesach- und Osterfeiertage!